Der Egotrip von GDL-Chef Claus Weselsky hat das Streikrecht in Verruf gebracht, aber ändern wird sich wohl nichts
- rrohstoff
- 8. März 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Apr. 2024
Der Gesetzgeber darf sich nicht länger davon drücken, das Streikrecht im Bereich der kritischen Infrastruktur und der Daseinsvorsorge zu regulieren
Hat die GDL mit ihrem umstrittenen Einpeitscher Claus Weselsky es dieses Mal übertrieben? Bereits zum sechsten Mal streiken die Lokführer, legen den Bahnverkehr und die S-Bahnen bundesweit lahm. Schon mit der Drohung mit „Wellenstreiks“ - an- und abschwellende Arbeitsniederlegungen, die jeden Notfahrplan über den Haufen werfen - kochten die Emotionen hoch. Zeitgleich wurde die Lufthansa bestreikt vom Bodenpersonal und den Flugbegleitern. Millionen Fahrgäste blieben auf den Gleisen und Flugsteigen sitzen.
Der Frust ist groß und kommt selbst in den Bundestagsparteien an. Die FDP, die sich traditionell als Anwalt der Wirtschaft geriert, mahnt eine Einschränkung des Streikrechts an, ebenso die Arbeitgeber und deren Akteure in der Union. Die SPD dagegen, die sich als Anwalt der Gewerkschaften versteht, lehnt traditionell jeden Angriff auf das Streikrecht ab.
Im internationalen Vergleich wird in Deutschland wenig gestreikt. Insbesondere im Vergleich mit Frankreich, Italien und Großbritannien zeigen sich die großen deutschen Branchen-Gewerkschaften sehr gemäßigt. Eine allgemeine Einschränkung des Streikrechts wird deshalb von keiner Seite gefordert.
Wenn überhaupt, dann gibt es Handlungsbedarf in einem eng gefassten Bereich, den der kritischen Infrastruktur. Deshalb fordert die Mittelstandsvereinigung MIT ein Streikgesetz, dass Arbeitskämpfe für Flug-, Bahn- und Schiffsverkehr regelt, aber auch die Energie- und Wasserversorgung, Rettungsdienste, Krankenhäuser und Pflegedienste.Die MIT-Vorsitzende Gitta Connemann (CDU) legte in der Legal Tribune offen, was ihrer Meinung nach passieren muss: Deutschland brauche endlich ein Streikrecht. Dieses soll für die oben genannten Branchen vor einem Streik ein verpflichtendes Schlichtungsverfahren vorsehen. Erst wenn das scheitere, dürfe gestreikt werden, mit einer viertägigen Ankündigungsfrist und Notfalldiensten.
Wie ist die Rechtslage?
Deutschland hat tatsächlich kein Streikrecht in Gesetzesform. Allerdings sieht Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetzes die Koalitionsfreiheit vor. Die Beschäftigten dürfen sich zu Koalitionen und zu Arbeitskämpfen verabreden, um den Abschluss eines Tarifvertrages zu erzwingen. Die Regeln, wie das ablaufen soll, haben allein die Gerichte entwickelt: Streiks sind nicht erlaubt während der Friedenspflicht, solange also noch ein Tarifvertrag läuft. Arbeitskämpfe (Streiks oder Aussperrungen) müssen verhältnismäßig sein (Bundesarbeitsgericht 1971), das „Gemeinwohl“ darf nicht offensichtlich verletzt werden. 1978 verurteilte der Bundesgerichtshof den Fluglotsenstreik. Dieser sei unverhältnismäßig gewesen, habe ein ungewöhnliches Maß von Nachteilen und Belastungen für Unbeteiligte gehabt. Außerdem: Beamte dürfen nicht streiken.
Grundrechte hilfloser Dritter werden verletzt
Mehrfach haben die Gerichte den Gesetzgeber aufgefordert, diesen Bereich zu präzisieren, Regeln aufzustellen für den Bereich der sogenannten Daeinsvorsorge, also Krankenhäuser, Ver- und Entsorgungungsbetriebe für Wärme, Strom, Wasser, Abwasser, Müll sowie Verkehrsbetriebe. Das Bundesarbeitsgericht mahnte nach dem Ärztestreik an, dass das Streikrecht nicht missbraucht werden darf, indem die Grundrechte unbeteiligter „hilfloser“ Dritter auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Eigentum und Berufsfreiheit gefährdet werden und Schutzgüter der Allgemeinheit verletzt werden.
Damit sind eigentlich dem Streikrecht im oben beschriebenen engen Bereich Grenzen gesetzt. Trotzdem haben die Arbeitsgerichte über alle Instanzen in den letzten beiden Jahrzehnten fast alle Streiks zugelassen. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Eilverfahren, mit denen die Lufthansa oder die Deutsche Bahn AG versucht haben, Warnstreiks oder reguläre Streik in letzter Minute zu stoppen, die Millionen „hilfloser Dritter“ betrafen, abgeschmettert. Die Auswirkungen auf Dritte sind völlig aus dem Blick geraten. Einzige Bedingung an den Streik: Er darf nicht darauf abzielen, die Existenz des bestreikten Unternehmens zu gefährden.
Verschärft hat sich die Lage durch zwei Entwicklungen:
1. Der Warnstreik ist heute der Regelfall. Die Gerichte lassen heute selbst 3- bis 6-tägige Warnstreiks zu, selbst mit nur kurzfristiger Ankündigung. Warnstreiks sind für die Gewerkschaften ein gutes Mittel zur Mobilisierung. Sie erfordern keine aufwändige Urabstimmung, führen aber dazu, dass viele Unentschlossene rasch in die Gewerkschaft eintreten. So geniessen sie im Fall eines ernsten Arbeitskampfes den Rechtsschutz der Gewerkschaft und das Streikgeld für den Lohnausfall. Mit dem Warnstreik ist der Streik keineswegs mehr ultima ratio.
2. Radikalisierung unter Spartengewerkschaften.Besonders bei der Lufthansa und der Bahn sind Spartengewerkschaften entstanden, die teilweise nur einen Berufsstand organisieren. Bei der Lufthansa sind die Piloten in der VC Cockpit, das Bodenpersonal in der Ver.di und die Flugbegleiter in der UFO. Bei der Bahn sind die Lokführer in der GDL, das übrige Personal überwiegend in der Eisenbahnergewerkschaft EVG. Diese berufsständischen Gewerkschaften konkurrieren über den Berufsstand hinweg untereinander. Dabei haben die Lokführer und vor allem die Piloten das größte Drohpotenzial, weil sie einen hohen Organisationsgrad haben und eine homogene Gruppe bilden. Ohne sie geht gar nichts.
Das gescheiterte Tarifeinheitsgesetz
Um diesen Überbietungswettbewerb innerhalb eines Unternehmens und das damit verbundene Tarifwirrwarr zu stoppen, hat die Große Koalition 2015 das Tarifeinheitsgesetz verabschiedet. Im Kern besagt es, dass in einem Betrieb, in dem mehrere Tarifverträge sich überlappen, das gilt, was die zahlenmäßig dominierende Gewerkschaft vereinbart hat. Dagegen gab es jedoch Verfassungsbeschwerden. Bis heute ist unklar, wie die Interessen der kleineren Gewerkschaften abgesichert werden müssen. Jedenfalls kann heute festgestellt werden: Dieses Gesetz hat das Ziel (ein Betrieb, ein Tarifvertrag) keineswegs erreicht und den innerbetrieblichen Überbietungswettbewerb nicht beendet.
Fazit
These 1: Die deutschen Gewerkschaften nutzen das Streikrecht im internationalen Vergleich sehr gemäßigt aus. Eine generelle gesetzliche Regelung des Streikrechts macht deshalb keinen Sinn. Einzige Ausnahme: Der inflationäre Gebrauch des Warnstreiks. Hier wäre eine Präzisierung sinnvoll, vor allem was die Dauer und die Vorwarnzeit angeht.
These 2: Im Bereich der Daseinsvorsorge und der kritischen Infrastruktur, von den Krankenhäusern, Verkehrsbetrieben bis zur Müllabfuhr, macht eine gesetzliche Regelung dagegen Sinn. Denn hier wird nicht nur ein Betrieb bestreikt. Hier greift der Arbeitskampf direkt negativ in das Leben von unzähligen Reisenden, Kranken, Familien, Pflegebedürftigen ein und beschädigt deren Grundrechte.
These 3: Denkbar ist hier eine längere Ankündigungsfrist, etwa zwei, drei oder vier Tage. Außerdem könnte die Dauer eines Warnstreiks zeitlich begrenzt werden. Unverzichtbar ist außerdem eine Definition eines Notdienstes. Dabei ist offensichtlich, dass an den Notdienst verschiedene Anforderungen zu stellen sind. Ein Streik im Krankenhaus, im Rettungsdienst oder in Apotheken gefährdet unmittelbar Menschenleben, wenn der Notdienst nicht ausreicht. In der Müllabfuhr dagegen ist das nicht der Fall. Außerdem könnte die Zulässigkeit von Streiks gekoppelt werden an eine vorhergehende Schlichtung. Die Gießener Arbeitsrechtlerin Lena Rudkowski hält sogar eine Zwangsschlichtung für vereinbar mit dem Art.9 Abs. 3 des Grundgesetzes. „Aus verfassungsrechtlicher Sicht können zum Schutz der Rechte Dritter Arbeitskämpfe in lebenswichtigen Betrieben reguliert werden“, sagte sie der LTO. Nach Meinung des Arbeitsrechtler Michael Fuhlrott gilt dies auch für Betriebe der kritischen Infrastruktur, also auch für Bahn und Fluggesellschaften.
These 4: Eine solche Regelung durch den Gesetzgeber macht auch Sinn, um die Akzeptanz des Streikrechts zu wahren. Allerdings muss strikt darauf geachtet werden, dass sie nicht als Einfallstor genutzt werden kann, um das allgemeine Streikrecht in der freien Wirtschaft einzuschränken.
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